Öffentliche Dienstleistungssysteme in Europa. Von ihrer Entstehung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Angleichung im Rahmen der Europäischen Union seit den 1990er-Jahren

Es scheint eine Epoche zu Ende zu gehen, in der die Bürger/innen Anspruch auf eine stabile, preiswerte und qualitativ gute Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen haben und der Staat diese durch Eigenproduktion befriedigt. Stattdessen hat eine Diskussion darüber begonnen, was als angemessene Grundversorgung bezeichnet werden kann und ob und wie sie gesichert werden soll. Was noch vor nicht allzu langer Zeit als undenkbar galt, ist inzwischen selbstverständlich: Die monopolistischen Strukturen der Versorgungsnetze werden aufgebrochen und wettbewerbliche eingeführt. Öffentlich-rechtliche Dienstleistungsunternehmen werden in privatrechtliche umgewandelt oder sogar privatisiert. Internationale bzw. europäische Großkonzerne übernehmen lokale und regionale Versorgungsnetze. Die traditionellen Dienstleistungssysteme machen einen tief greifenden Wandel durch und noch ist nicht abzusehen, wohin die Entwicklung letztlich geht. [...]

Öffentliche Dienstleistungssysteme in Europa. Von ihrer Entstehung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Angleichung im Rahmen der Europäischen Union seit den 1990er-Jahren[1]

Von Gerold Ambrosius

Es scheint eine Epoche zu Ende zu gehen, in der die Bürger/innen Anspruch auf eine stabile, preiswerte und qualitativ gute Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen haben und der Staat diese durch Eigenproduktion befriedigt. Stattdessen hat eine Diskussion darüber begonnen, was als angemessene Grundversorgung bezeichnet werden kann und ob und wie sie gesichert werden soll. Was noch vor nicht allzu langer Zeit als undenkbar galt, ist inzwischen selbstverständlich: Die monopolistischen Strukturen der Versorgungsnetze werden aufgebrochen und wettbewerbliche eingeführt. Öffentlich-rechtliche Dienstleistungsunternehmen werden in privatrechtliche umgewandelt oder sogar privatisiert. Internationale bzw. europäische Großkonzerne übernehmen lokale und regionale Versorgungsnetze. Die traditionellen Dienstleistungssysteme machen einen tief greifenden Wandel durch und noch ist nicht abzusehen, wohin die Entwicklung letztlich geht.

Der Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ findet sich zwar nicht im EG-Vertrag von 1957, aber der der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ und um die soll es hier gehen. Auch für sie gibt es zwar keine eindeutige Definition, es herrscht aber weitgehende Übereinstimmung darüber, dass es sich um wirtschaftliche Tätigkeiten handelt, die von den Staaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden. Das öffentliche oder das allgemeine Interesse spielt bei ihrer Bereitstellung eine besondere Rolle. Gemeint sind insbesondere Leistungen der großen netzgebundenen Wirtschaftszweige des Verkehrs-, Nachrichten- und Versorgungswesens (Gas, Wasser, Elektrizität). „Öffentlich“ bedeutet also nicht staatliche oder kommunale Eigenproduktion; öffentliche Dienstleistungen können auch von Privaten produziert und angeboten werden, allerdings muss der Staat dieses Angebot in irgendeiner Form gewährleisten.

Das Grünbuch von 2003 gehört zu einer Reihe von Dokumenten, in denen sich die Europäische Kommission seit den 1990er-Jahren mit öffentlichen Dienstleistungen beschäftigt. Grünbücher sind von der Kommission veröffentlichte Mitteilungen, die zur Diskussion über einen bestimmten Politikbereich dienen. Sie richten sich vor allem an interessierte Dritte, Organisationen und Einzelpersonen, die dadurch die Möglichkeit erhalten, an den jeweiligen Konsultationen und Beratungen teilzunehmen. Sie gehen meist legistischen Maßnahmen voraus und stellen häufig nicht nur erste vage Überlegungen dar, sondern können schon recht konkret die Meinung der Kommission zu einem bestimmten Politikfeld widerspiegeln.

Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass die Diskussion um die Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungssysteme zunehmend unter der Perspektive der Gemeinschafts- bzw. Kollektivgüter zur Befriedigung von Grundbedürfnissen geführt wird. Die wichtigsten werden in der Quelle genannt: (1) Die seit den 1970er-Jahren einsetzende liberale Renaissance, in deren Zusammenhang auch die Versorgungsnetze dem Wettbewerb geöffnet werden, soll nicht zu einem versorgungspolitischen Kahlschlag führen. Durch die Steigerung der Effizienz, die man mit der Liberalisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung erreichen will, soll die Lebensqualität der Bürger/innen nicht beeinträchtigt werden. (2) Seit dem Ende der großen ordnungspolitischen Dichotomie zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, und der beschleunigten Internationalisierung bzw. Globalisierung stehen auch die bisherigen Marktwirtschaften nicht mehr nur als Wirtschafts-, sondern verstärkt als Gesellschaftssysteme in Konkurrenz miteinander. In einer solchermaßen globalisierten Welt versucht die „Europäische Gemeinschaft“ ihre gesellschaftliche Identität auch dadurch zu finden, dass sie auf traditionelle Elemente gesellschaftlicher Solidarität zurückgreift, die die europäischen von anderen Ländern der Welt unterscheiden. (3) Das Binnenmarktprojekt war der letzte große Versuch, über einen ökonomischen Integrationsschub den wirtschaftlichen Wohlstand der europäischen Bürger/innen zu steigern und auf diese Weise Akzeptanz für die Integration zu bekommen. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass das „Wirtschaftliche“ dazu nicht mehr ausreicht – der ökonomische Mehrwert einfach zu gering ist –, so dass das „Soziale“ an seine Seite treten muss. (4) Schließlich ist die Diskussion auch im Hinblick auf die neuen Mitgliedstaaten der EU forciert worden. Es soll ihnen klargemacht werden, dass die westeuropäischen Gesellschaften einen gemeinsamen Gemeinwohlkanon besitzen, den sie als Beitrittsstaaten zu akzeptieren haben.

Die Europäische Kommission misst den öffentlichen Dienstleistungen offensichtlich eine erhebliche Bedeutung bei. Sie sind nach den Ausführungen im Grünbuch ein „unverzichtbarer Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells“, sie gehören zu den „Werten, die allen europäischen Gesellschaften gemeinsam sind“, sie stellen „Rechte dar, die die europäischen Bürger in Anspruch nehmen können“, schließlich bilden sie einen „Pfeiler der europäischen Staatsbürgerschaft“. Eine solche grundsätzliche Einschätzung lässt sich eigentlich nur dann rechtfertigen, wenn es sich bei öffentlichen Dienstleistungen tatsächlich um tragende Elemente handelt, die seit längerem in den Wirtschafts- und Sozialordnungen der europäischen Gesellschaften verankert sind.

Selbst wenn in manchen Ländern der Auf- und Ausbau der öffentlichen Dienstleistungssysteme schneller erfolgte als in anderen, ändert das nichts daran, dass die Gebietskörperschaften – Zentralstaat, Länder/Provinzen/Departments und Kommunen –; in praktisch allen europäischen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Leistungen des Verkehrs-, Nachrichten- und Versorgungswesens in eigener Regie übernahmen oder ihr Angebot zumindest gewährleisteten und nach Gemeinwohlkriterien regulierten. Die Ursachen dieser Entwicklung waren überall ähnlich: Ein liberaler Antimonopolismus wandte sich gegen die Gefahr der privaten Ausnutzung infrastruktureller bzw. natürlicher Monopole. Ein sozialkonservativer Paternalismus wollte den Missständen des kapitalistischen Systems mit öffentlicher Sozialreform begegnen, zu der auch diese Art der Dienstleistungen gehörte. Ein sozialistischer Reformismus versuchte, antikapitalistische Ordnungsprinzipien im bestehenden System zu verankern. Ein republikanischer Interventionismus zielte darauf ab, gesellschaftliche als öffentliche Interessen zu definieren und den Primat der Politik gegenüber der Ökonomie durchzusetzen. Nicht alle Strömungen oder Paradigmen waren in den europäischen Staaten gleich stark vertreten; fast überall gab es aber eine Gemengelage dieser unterschiedlichen Motive. Natürlich hatte der Aufbau von Infrastrukturen auch etwas mit gruppenspezifischen Egoismen zu tun: Als vorwärtsgerichtete Steuersenkungsstrategie kann man das Engagement bürgerlicher Kreise beim Ausbau der kommunalen Infrastruktur bezeichnen, die über die Gewinne städtischer Betriebe ihre eigene Steuerlast senken wollten. Auch die höheren Gebietskörperschaften nutzten ihre Unternehmen als fiskalische Einnahmequelle, um spezielle Klientelen zu entlasten. Nicht wenige Verkehrsprojekte bei Straßen, Eisenbahnen und Kanälen dienten anfangs wirtschaftlichen Sonderinteressen. All dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in den europäischen Ländern die Auffassung immer mehr durchsetzte, dass das moderne Verkehrs-, Nachrichten- und Versorgungswesen nicht nur dazu dienen sollte, der immer komplexeren Wirtschaft einer sich industrialisierenden Gesellschaft die infrastrukturelle Basis zu sichern, sondern auch und nicht zuletzt dem sozialen Ausgleich. Mit öffentlichen Dienstleistungen war schon am Ende des 19. Jahrhunderts der Gedanke des gesellschaftlichen Interessenausgleichs verbunden: diskriminierungsfreier Zugang, Gleichbehandlung der Bürger, einheitliche Tarifierung im Raum, Kontinuität und Qualität der Leistungen, soziale Preisgestaltung etc. Bestimmte Güter und Dienste sollten nicht oder nicht ausschließlich über private Märkte bereitgestellt, sondern entweder hoheitlich reguliert und/oder in öffentlichen Unternehmen produziert werden. Es war eben nicht, wie zum Beispiel in Deutschland, von „Munizipalkapitalismus“, sondern „Munizipalsozialismus“ die Rede. Diesen Begriff gab es auch in anderen europäischen Ländern, und zwar mit ganz ähnlicher sozialreformerischer, gemeinwohlbezogener Konnotation.

Die Geschichte Europas war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Suche nach einem gesellschaftlichen Entwicklungsmodell gekennzeichnet, das jenseits von extremem Liberalismus und revolutionärem Sozialismus gleichzeitig privatwirtschaftliche Effizienz und gemeinwirtschaftliche Solidarität sichern wollte. Der Staat – einschließlich der unteren Gebietskörperschaften –, der noch nicht über die Umverteilungsmöglichkeiten des Steuer- und Sozialstaates der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfügte, nutzte andere Formen des sozialen Ausgleichs, zu denen eben auch das Angebot öffentlicher Dienstleistungen gehörte. Schon im 19. Jahrhundert diente dies der wirtschaftlichen und sozialen, letztlich der gesellschaftlichen Kohäsion. Seit dieser Zeit war die politische Steuerung von öffentlichen Dienstleistungsunternehmen durch Verhaltensregulierung gekennzeichnet. Sie legte den Unternehmen beim Ausbau der Netze, bei der Qualität der Dienste und beim Preis der Leistungen Gemeinwohlverpflichtungen auf. Damit unterschied sich Europa von Ländern wie den USA, bei denen die Steuerung zumindest tendenziell auf Strukturregulierung ausgerichtet war; die Dienstleistungsmärkte sollten so weit wie möglich dem Wettbewerb geöffnet werden, um der „unsichtbaren Hand“ den Ausgleich zwischen Individual- und Gemeininteressen zu ermöglichen.

Bei aller europäischen Gemeinsamkeit gab und gibt es natürlich nationale Unterschiede, die sich im übergreifenden Paradigma, im positiven Recht und im konkreten Regulierungsregime ausdrücken. Etwas verkürzt kann zwischen zwei Gruppen von Staaten unterschieden werden: Einerseits gibt es die Staaten, in denen der Begriff der „öffentlichen Dienstleistungen“ eine erhebliche Rolle spielt – sowohl paradigmatisch als auch rechtlich. Hier ist an erster Stelle Frankreich mit seinem Konzept des service public zu nennen. Dazu gehören Staaten mit romanischer oder Frankreich nahe stehender Dogmen- und Rechtstradition – Italien mit dem Konzept des servicio pubblico, Spanien mit dem des servicio publico, Portugal, Griechenland oder Belgien. Wie in Frankreich ist beispielsweise in Spanien der Anspruch der Bürger/innen auf eine angemessene Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen verfassungsrechtlich verankert. Inwieweit dieser Anspruch heute noch justitiabel ist, sei dahingestellt. Andererseits gibt es Staaten, in denen der Begriff der „öffentlichen Dienstleistungen“ ebenfalls mit konzeptionellen Überlegungen verbunden ist, ohne aber rechtlich von ähnlicher Bedeutung zu sein – Großbritannien mit dem Konzept der public utilities, Deutschland mit dem der Daseinsvorsorge, Irland, die Niederlande oder die nordischen Staaten. Dass Paradigma und Recht nicht oder nur eingeschränkt als Indikator für die reale Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen gelten können, zeigt die Geschichte. Allerdings war es sicherlich kein Zufall, dass die Welle der Liberalisierung und damit Entstaatlichung der öffentlichen Dienstleistungssysteme in der jüngsten Vergangenheit gerade von Großbritannien aus ins Rollen kam. Im Hinblick auf die konkreten Regulierungsregime, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausbildeten, gab es ebenfalls Unterschiede in Bezug auf die gebietskörperschaftlichen Steuerungsebenen, die Intensität der öffentlichen Eingriffe und das Verhältnis von öffentlichen und privaten Unternehmen bei der Produktion und Bereitstellung von Dienstleistungen des Verkehrs-, Nachrichten- und Versorgungswesens. Die Skala der nationalen Systeme reichte von solchen mit zentralstaatlichen Monopolen im öffentlichen Eigentum bis zu regionalen Monopolen im privaten Eigentum, aber öffentlich überwacht.

Seit den 1990er-Jahren sind die öffentlichen Dienstleistungssysteme einem strukturellen Wandel unterworfen. Eine Folge ist die Vergemeinschaftung der nationalen Systeme in dem Sinne, dass die Gestaltungskompetenz der europäischen Institutionen zunimmt. Die Kommission fährt dabei eine Doppelstrategie: Sie treibt, wie gesagt, die Öffnung der infrastrukturellen Märkte voran, will aber gleichzeitig eine Grundversorgung sichern, deren Ausgestaltung gemeinschaftseinheitlich bestimmt werden soll. Auch wenn Kommission und Parlament immer wieder auf das Subsidiaritätsprinzip hinweisen und darauf, dass die verschiedenen Dienstleistungssysteme von der nationalen Geschichte, Tradition, auch von regionalen oder lokalen Besonderheiten bestimmt werden, ist doch vor allem die Kommission bemüht, das Gemeinwohl als die paradigmatische Grundlage der Dienstleistungssysteme zu bestimmen, um so die Definitionshoheit zu gewinnen und damit die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten einzuschränken. Abgesehen davon, dass die Forderung, funktionsfähige Dienstleistungssysteme zu erhalten, im europäischen Primärrecht verankert worden ist, hat die Kommission Kriterien für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse formuliert: 1. Universaldienst: Es sollen Gemeinwohlverpflichtungen definiert werden, durch die gesichert werden soll, dass in einem liberalisierten Marktumfeld bestimmte netzgebundene Dienstleistungen in festgelegter Qualität sämtlichen Nutzern/innen im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unabhängig vom geografischen Standort zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen. Jede/r hat das Recht auf Zugang zu diesen Dienstleistungen, die als Teil einer Grundversorgung angesehen werden. 2. Kontinuität: Das Kontinuitätserfordernis bedeutet, dass der Diensteanbieter verpflichtet ist, den Dienst ohne Unterbrechung bereitzustellen. 3. Qualität: Die Dienste sollen ein „gesellschaftlich akzeptables Qualitätsniveau“ besitzen, z.B. im Hinblick auf technische Sicherheit und Service, Richtigkeit und Transparenz der Abrechnung, flächendeckende Versorgung usw. 4. Erschwinglichkeit: Ein Dienst soll zu erschwinglichen Preisen angeboten werden, wobei Erschwinglichkeit mehr als „angemessene Preisgestaltung“ bedeutet; Erschwinglichkeit kann auch Unentgeltlichkeit heißen. 5. Nutzer- und Verbraucherschutz: Dieser Schutz umfasst wiederum zahlreiche Elemente wie Gesundheit und Sicherheit, Transparenz in Bezug auf die Bereitstellung der Dienste, Information der Nutzer/innen, Vertretung bzw. Partizipation der Bürger/innen in den Aufsichtsorganen usw. Außerdem werden 6. der freie Netzzugang und 7. die Interkonnektivität netzgebundener Dienste genannt. Wie stark die gemeinschaftliche Definition des Gemeinwohls die Entwicklung der nationalen Dienstleistungen beeinflussen kann, macht die „Richtlinie über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und –diensten“ von 2002 besonders deutlich. Sie bestimmt relativ genau den Diensteumfang, die Dienstequalität, die Berechnung der Kosten der Gemeinwohlverpflichtungen, die Rechte der Nutzer/innen usw. Hier werden auf sehr präzise Weise die generellen Gemeinwohlverpflichtungen mit sehr konkreten Inhalten ausgefüllt.

Gleichzeitig vollzieht sich in den letzten Jahren eine Europäisierung der Regulierung, Finanzierung und Evaluierung der Dienstleistungen. Auf Drängen der Kommission werden die unterschiedlichen Regulierungsregime der Mitgliedstaaten insofern vereinheitlicht, als unabhängige Regulierungsstellen – Behörden oder Agenturen – eingerichtet werden, die nicht der europäischen Regulierungstradition entsprechen. Bei der Finanzierung der Dienstleistungen, die nicht rentabel am Markt erbracht werden können und daher staatlich subventioniert werden müssen, versucht die Kommission ebenfalls eine Harmonisierung zu erreichen, das heißt, die Berechnung der Gemeinwohlkosten zu vereinheitlichen. Schließlich soll die Evaluierung anhand standardisierter sozialer, wirtschaftlicher und technischer Kriterien erfolgen. So wie die Vergemeinschaftung des Gemeinwohls zu einer Angleichung der öffentlichen Dienstleistungssysteme führen wird, so wird die Harmonisierung von Regulierung, Finanzierung und Evaluierung eine Europäisierung der Gemeinwohlkonzepte zur Folge haben. Insgesamt nimmt damit die Vielfalt der öffentlichen Dienstleistungssysteme in Europa ab.

Öffentliche Dienstleistungen haben eine lange Tradition in Europa und sind Ausdruck der gesellschaftlichen Solidarität und des sozialen Ausgleichs. Die liberale Renaissance der jüngsten Vergangenheit hat dazu geführt, dass langfristig gewachsene Strukturen aufgebrochen werden; Gebiets- und Netzmonopole werden dem Wettbewerb geöffnet und als Konsequenz davon entstaatlicht. Die Institutionen der Europäischen Union unterstützen diese Entwicklung, versuchen aber gleichzeitig das solidarische Element der europäischen Wirtschafts- und Sozialordnungen zu erhalten. Mit dem Konzept des Universaldienstes soll in allen Mitgliedstaaten eine infrastrukturelle Grundversorgung gewährleistet werden. Um dies zu erreichen, versucht die Kommission, die Deutungskompetenz und die Meinungsführerschaft über das Gemeinwohl zu erlangen und die Art der Regulierung der Dienstleistungssysteme, der Finanzierung der Gemeinwohlkosten und der Evaluierung des Dienstleistungsangebotes zu vereinheitlichen. Die verschiedenen nationalen Systeme sollen weniger im Wettbewerb stehen, sondern stärker harmonisiert werden. Das für die europäische Integration konstitutive Pendel zwischen Einheit und Vielfalt wird auch auf diesem gesellschaftspolitischen Gebiet Richtung Einheit schwingen.

 


[1] Essay zur Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch zu Dienstleistungen von all-gemeinem Interesse (KOM (2003) 270, Brüssel, 21. Mai 2003); [Auszüge]


Literaturhinweise:

  • CEEP – Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft. Deutsche Sektion (Hg.), Europa. Wettbewerb und öffentliche Dienstleistungen (Beiträge zur öffentlichen Wirtschaft 15), Berlin 1986.
  • Cox, Helmut (Hg.), Öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union. Zum Spannungsfeld zwischen Service Public und Wettbewerbsprinzip (Schriftenreihe der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft 40), Baden-Baden 1996.
  • Cox, Helmut (Hg.), Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union. Zum Widerstreit von freiem Wettbewerb und Allgemeininteresse (Schriftenreihe der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft 45), Baden-Baden 2000.
  • Hrbek, Rudolf; Nettesheim, Martin (Hgg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinvorsorge (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung 25), Baden-Baden 2002.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (KOM (2003) 270 endgültig; Brüssel, 21. Mai 2003); [Auszüge][1]

[Früherer Titel der Quelle: Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (KOM (2003) 270 endgültig; Brüssel, 21. Mai 2003)]

1. Die Europäische Union ist an einem Wendepunkt in ihrer Geschichte angelangt. Sie bereitet sich auf eine beispiellose Erweiterungswelle vor und arbeitet innerhalb des Konvents zugleich an einer Neudefinierung ihrer Aufgaben und der Arbeitsweise ihrer Organe im Rahmen eines neuen Verfassungsvertrags. Darüber hinaus hat sie eine Entwicklungsstrategie auf den Weg gebracht, die von den Synergieeffekten zwischen wirtschaftlichen und sozialen Reformen getragen wird und zudem auf den Dimensionen Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit beruht.

2. Vor diesem Hintergrund werden die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zunehmend wichtiger. Als unverzichtbarer Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells gehören sie zu den Werten, die allen europäischen Gesellschaften gemeinsam sind. Sie spielen bei der Erhöhung der Lebensqualität aller Bürger und der Überwindung von sozialer Ausgrenzung und Isolierung eine entscheidende Rolle. In Anbetracht ihres Stellenwertes in der Wirtschaft und ihrer Bedeutung für die Herstellung von Waren und die Erbringung sonstiger Dienstleistungen zählt die Effizienz und Qualität dieser Leistungen zu jenen Faktoren, die insbesondere im Hinblick auf die Attraktivität benachteiligter Regionen für Investoren zu größerer Wettbewerbsfähigkeit führen und den Zusammenhalt verbessern. Hinzu kommt, dass die effiziente und diskriminierungsfreie Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes und für die weitere wirtschaftliche Integration in die Europäische Union ist. Da diese Leistungen Rechte widerspiegeln, die die Bürger Europas in Anspruch nehmen können […], stellen die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse darüber hinaus einen Pfeiler der europäischen Staatsbürgerschaft dar.

3. Mit Blick auf den bevorstehenden Beitritt der neuen Mitgliedstaaten sind die Gewährleistung effizienter und hochwertiger Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und insbesondere die Entwicklung der netzgebundenen Wirtschaftszweige und deren Zusammenschaltung von entscheidender Bedeutung. Dabei geht es darum, die Integration zu erleichtern, das Wohlergehen der Bürger zu befördern und dem Einzelnen zu helfen, wirksamen Gebrauch von seinen Grundrechten zu machen. Da mehrere neue Mitgliedstaaten in den vergangenen zehn Jahren darüber hinaus den Übergang zur Marktwirtschaft vollzogen haben, gilt es ihre Bürger nun von der Bedeu= tung zu überzeugen, die die Union dem Zugang des Einzelnen zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse beimisst.

4. Die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bilden den Dreh- und Angelpunkt der politischen Debatten. In der Tat berühren sie die zentrale Frage, welche Rolle in einer Marktwirtschaft staatlichen Stellen zukommt, da sie einerseits das reibungslose Funktionieren des Marktes und die Einhaltung der Spielregeln durch alle Akteure sicherstellen und andererseits das öffentliche Interesse gewährleisten, insbesondere die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bürger und die Erhaltung von Kollektivgütern in Fällen, in denen der Markt dazu nicht in der Lage ist.

5. In den Anfangsjahren der Gemeinschaften führte die Zielsetzung der wirtschaftlichen Integration dazu, dass der Ausräumung der Handelsbarrieren zwischen den Mitgliedstaaten besonderes Augenmerk galt. Vor allem seit der zweiten Hälfte der 80er-Jahre öffnete sich eine Reihe der Sektoren, von denen hauptsächlich oder zumindest auch Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbracht werden, nach und nach für den Wettbewerb: Telekommunikation, Postdienste, Verkehr und Energiesektor. Durch die Liberalisierung erhielt die Modernisierung, gegenseitige Vernetzung und Integration dieser Sektoren Auftrieb. […] Die Gemeinschaft hat sich stets für eine „kontrollierte“ Liberalisierung eingesetzt, d. h. für eine schrittweise Öffnung des Marktes, flankiert von Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwohls; hierbei soll insbesondere das Universaldienstkonzept den Zugang aller zu einer qualitativ definierten Dienstleistung gewährleisten, und zwar zu einem erschwinglichen Preis, unabhängig von der wirtschaftlichen, sozialen oder geografischen Lage. […]



[1] Vollständiges Dokument im Internet: http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/gpr/2003/com2003_0270de01.pdf (22.12.2006).

Für das Themenportal verfasst von

Gerold Ambrosius

( 2007 )
Zitation
Gerold Ambrosius, Öffentliche Dienstleistungssysteme in Europa. Von ihrer Entstehung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Angleichung im Rahmen der Europäischen Union seit den 1990er-Jahren, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1385>.
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